Rückblick & Materialien

Ziviler Ungehorsam 2.0

– Müssen wir einen Schritt weiter gehen?

Besonders in der Klimagerechtigkeitsbewegung schleicht sich das Gefühl ein, Demonstrationen aber auch Blockaden alleine bringen nicht den notwendigen Erfolg. Die Aktionsformen scheinen zu wenig Druck auf Entscheidungsträger*innen auszuüben, sodass dringende Veränderungen für den gesellschaftlichen Wandel nicht umgesetzt werden. Seit einigen Wochen wird deswegen innerhalb von Gruppen aber auch in der Presse über eine Erweiterung des zivilen Ungehorsams, hin zu Sabotageakten, gesprochen.
In unserem ersten Online-Seminar der Reihe „Bewegungen bewegen –  strategischer Austausch zu bewegungsübgreifenden aktuellen Themen“ am 11. November 2021 luden wir Aktive und Interessierte ein, um bewegungs- und gruppenübergreifend ohne Plenums-Zeitdruck über dieses Thema zu reflektieren um viele Perspektiven kennenzulernen und später besser strategische Entscheidungen fällen zu können.

Bei unserm ersten Termin diskutierten wir gemeinsam mit 25 Teilnehmenden und veranstalteten aufgrund des großen Interesses spontan einen Zusatztermin, bei dem 40 weitere Teilnehmende am 1. Dezember teilnahmen.

Nach einem kurzen Input von Laura Plönnigs (Mitarbeiterin der Werkstatt und Klimaaktivistin) diskutierten die Teilnehmenden gemeinsamen in einem ergebnisoffenen Raum. Sie stellten sich Begrifflichkeiten wie der „friedlichen Sabotage“ / „Demontage mit Würde“, tauschten sich zu Chancen und Gefahren eines erweiterten Begriffs des Zivilen Ungehorsams aus und fragten sich ob vielleicht noch ganz andere Möglichkeiten zur Verfügung stehen.

Seminarreihe "Bewegungen bewegen"

Die Seminarreihe beschäftigt sich mit aktuellen Themen verschiedener sozialer Bewegungen. Sie bietet Raum für strategischen, bewegungsübergreifenden Austausch und der gemeinsamen Erarbeitung praktischer Handlungsideen für erfolgreichere Bewegungen. Ziel ist es, die Ergebnisse und Diskussionen danach in die eigenen Bewegungen zurückzutragen.
Unsere Seminare finden einmal monatlich von 19:00 – 20:30 Uhr online statt. Die Seminare finden unabhängig voneinander statt und es ist kein spezielles kein Vorwissen nötig.
Die Seminarreihe richtet sich an Aktivist:innen aller emanzipatorischer sozialer Bewegungen und interessierte Menschen, die mit den Themen in Kontakt kommen wollen. 

Protokoll – Zusammenfassung der Diskussionen

Das zusammengeführte Protokoll der beiden Seminare findet ihr hier:

Protokoll Ziviler Ungehorsam 2.0

Die im Protokoll genannten Punkte spiegeln die verschiedenen Perspektiven der Teilnehmenden wider und nicht die Meinung der Werkstatt für Gewaltfreie Aktion, Baden.

Wir hoffen, dass das Protokoll für weitere Menschen und Gruppen, bei ihren strategischen Überlegungen und Entscheidungen nützlich sein kann. Leitet dieses Protokoll deswegen gerne in relevante Kontexte weiter.

Nächste Veranstaltung

Unser nächstes Seminar findet am 19. Januar 2022 zum Thema „Hoffnung vs. Dringlichkeit – strategische Narrative und mentale Gesundheit“ statt. Mehr Infos dazu hier

Impulsinput – Laura Plönnigs

Wenn wir „Ziviler Ungehorsam“ hören, haben wir direkt Bilder im Kopf. Menschen, die auf der Straße sitzen, Menschen die Bagger besetzen und Menschen, die in Bäume klettern.

Eine nächste Frage könnte sein: „Wie legitimiert sich ziviler Ungehorsam“? Zur Beantwortung dieser Frage, habe ich zur Annäherung Aussagen dreier philosophisch-akademischer Theoretiker mitgebracht, Hannah Arendt, John Rawls und Jürgen Habermas.

Hannah Arendts Kernaussage ist, dass bei zivilem Ungehorsam weniger die individuelle Interessenvertretung im Fokus ist, sondern es geht MEHR um „organisierte Minderheiten, die durch eine gemeinsame Meinung zusammengehalten werden“.

John Rawls beruft sich in der Legitimation des ZU auf eine gemeinsame Gerechtigkeitsvorstellung, die der politischen Ordnung zugrunde liegt. Ziviler Ungehorsam muss sich also, im Sinne seiner Gerechtigkeitstheorie, in seiner moralischen Ausrichtung gegen die Verletzung der Gerechtigkeitsgrundsätze stellen.

Habermas sieht den zivilen Ungehorsam in einem moralisch begründeten Protest- diesem dürfen nicht nur private Glaubensüberzeugungen oder Eigeninteressen zugrunde liegen, sondern er ist ein „ öffentlicher Akt, der in der Regel angekündigt ist und von der Polizei in seinem Ablauf kalkuliert werden kann; er schließt die vorsätzliche Verletzung einzelner Rechtsnormen ein, ohne den Gehorsam gegenüber der Rechtsordnung im Ganzen zu affizieren; er verlangt die Bereitschaft, für die rechtlichen Folgen der Normverletzung einzustehen; die Regelverletzung, in der sich ziviler Ungehorsam äußert, hat ausschließlich symbolischen Charakter – daraus ergibt sich schon die Begrenzung auf gewaltfreie Mittel des Protests.“

Grundsätzlich reden wir also über einen politisch motivierten Gesetzesbruch, der öffentlich und gewaltlos stattfindet. Die Motivation der Aktivist*innen ist gewissensbasiert und sie sind bereit die Konsequenzen zu tragen, was rechtliche Konsequenzen miteinschließt.
Ziviler Ungehorsam wird genutzt, um die Demokratie zu demokratisieren.

Aus den obig genannten Ansätzen leitet sich nun ab, dass Ziviler Ungehorsam Legalität und Legitimität voneinander trennt. Legitimationsgrundlagen spielen eine große Rolle in der Bewertung von Protest und Widerstand als ZU. Dem liegen vier Legitimationsgrundlagen zugrunde.

  • Die Orientierung des ZU an universellen moralischen Prinzipien bedeutet, dass ein triftiger Grund vorliegen muss, der sich im Bereich einer allgemein universalistischen Moral verorten lässt.
  • Die Berücksichtigung von Minderheiten besagt, dass es im ZU immer um den Kampf für die Rechte einer Minderheit geht und nicht jene der herrschenden Klasse oder die Interessen der Vertreter:innen der Mehrheitsgesellschaft.
  • Die Anerkennung der rechtlichen Folgen der Regelverletzung und der Legalität der demokratischen Ordnung „Ungehorsam gegenüber dem Gesetz innerhalb der Grenzen der Gesetzestreue“, setzt die Bereitschaft für die rechtlichen Folgen der Regelverletzung einzustehen, voraus. Kritische Diskussionen kommen in Bezug auf die Anerkennung der rechtlichen Folgen immer wieder auf, da die Repressionen übermäßig hoch sind, Menschen gehen deshalb z.B nicht mit Klarnamen in Aktion. Gegenargumente sind, dass es bei ZU gerade um Zeigen von Gesichtern und Namen geht, vor allem in der privilegierten Position in der sich ein Großteil der Aktivist*innen in Deutschland befindet.
  • Der Symbolische Protest mit normativer Begrenzung als Protestmittel: Gewaltlosigkeit als wichtigste Maxime des ZU. Der Gewaltbegriff unterliegt allerdings den unterschiedlichsten sozialen, politischen und legalen Definitionen.
    Zusammenfassend lässt sich sagen, dass die Frage nach der Legitimierung des zivilen Ungehorsams eine anhaltende Auseinandersetzung über Deutungshoheiten, Definitionen und Macht ist.

Was bedeutet das nun also in der Praxis?

Eine Bewegung, die vor über 100 Jahren mit ZU in Ihrem Kampf für das Frauenwahlrecht gearbeitet haben, war die britische Frauenbewegung. Die Suffragetten „ National Union of Women’s Suffrage Societies“ (NUWSS), störten das Parlament, ketteten sich an Geländer, verteilten Flugblätter und organisierte Demonstrationen und Vorträge.
Die Suffragetten agierten anfangs nach den Maximen des herkömmlichen ZUs, später folgten Brandanschläge, eingeworfene Schaufensterscheiben und dergleichen. Um es mit den Worten von Emmeline Pankhurst zu sagen:

Wir mussten Sportereignisse stören, Geschäften schaden, Eigentum kaputt machen, die Gesellschaft demoralisieren, kurz: den geordneten Ablauf des Lebens stören.“ – Emmeline Pankhurst

Gandhis Salzmarsch 1930 im Kontrast, als er mit hunderten von Menschen zum Meer marschierte, um gegen die massiv hohe Salzsteuer der Briten zu demonstrieren, kennt ihr als Beispiel zivilen Ungehorsams. Gandhis ZU bedeutete „gewaltloser Widerstand der Massen“. Es begannen also 10000ende Menschen, Salz aus dem Meer zu schöpfen und zu verkaufen, was illegal war und sich nicht von den Briten verhindern ließ, da so viele Menschen gar nicht verhaftet werden konnten. Dem britischen Empire wurde also so die Stirn geboten und stellte einen Wendepunkt auf dem Weg Indiens in die Unabhängigkeit dar.

Gandhi gilt zusammen mit Martin Luther King, Kopf des Civil Rights Movements, als einer der bekanntesten aktivistischen Theoretiker.
In Deutschland gab es ein paar Aktionen, die über die gängige Definition von zivilem Ungehorsam hinausgeht, bzw. man den Begriff auf kollektive Sabotage ausdehnen kann. Das „Schottern“ der Castor-Transporte 2010 und 2011. Die Idee, ganze Gleisabschnitte von den Steinen zu befreien, damit die Transporte nicht mehr durchfahren können. Deutlich effektiver, so die Veranstalter:innen, als nur das Gleisbett zu besetzen. So waren 2010 3000-4000 Menschen an der Aktion „Castor schottern, Atomausstieg ist Handarbeit“ beteiligt.

Aktuelle Aktionen des zivilen Ungehorsams sind z.B durch das Bündnis „Rise Up“ diesen Sommer in Berlin erfolgt, bei denen u.a Besetzungen des Haus der Wirtschaft (CDU Lobbyverein), Bauernverband und Landwirtschaftsministerium auf der Tagesordnung standen. Medial sehr präsent war die Besetzung des Hambacher Forsts 2018. Bekannt ist Ende Gelände mit den Protesten und Besetzungen des Braunkohletagebaus Garzweiler, ganz aktuell ist die in Lützerath, zur Verteidigung der 1,5° Grenze.

Es lässt sich nun feststellen, dass die verschiedensten derzeitigen Aktionsformen immer weniger Effekte haben und nicht mehr wirkungsvoller werden. Das Überraschungsmoment des zivilen Ungehorsams (ausgelöst von FFF, durch das Schule schwänzen) hier in Deutschland ist vorbei.
Vor allem die Klimabewegung, stößt mit ZU an ihre Grenzen, bei der Friedensbewegung ist Sabotage im ZU-Begriff miteingeschlossen.
Dies führt uns zu einem möglichen neuen Verständnis von zivilem Ungehorsam, in der Literatur als ziviler Ungehorsam plus, friedliche Sabotage, Demontage mit Würde bezeichnet.

Bewegungen, die sich der Sabotage bedienen, haben fast immer eine „radikale Flanke“, die diese Sabotage ausführt, dies argumentiert der Wissenschaftler Andreas Malm in seinem Buch „How to blow up a pipeline“. Ähnlich argumentiert auch Tadzio Müller, in dem er anführt, dass es sich schon in der Geschichte sozialer Bewegungen zeigt, dass eine Form von strategischen Miteinander geben muss. M.L King war laut Müller vermutlich deshalb so erfolgreich, gerade weil es Malcolm X als radikale Flanke links neben ihm gab.

Es braucht eine radikale Flanke, die den Regierenden klarmacht: Wenn wir nicht mit den moderateren Teilen der Bewegung reden, dann gibt es den radikalen Teil, der richtig nervig ist. Dazu muss dieser Teil der Bewegung aber in der Lage sein, der Gegenseite Kosten zu verursachen: Irgendwo muss materieller Schaden verursacht werden, damit dieser eingepreist werden kann. Es muss klar sein: Wer jetzt neue fossile Investitionen plant, begeht ein Investitionsrisiko.“ (Müller)

Friedliche Sabotage werde also nur von dieser „radikalen Flanke“ ausgeführt, so Müller. Laut Malm trage Friedliche Sabotage zur Eskalation bei, sie definiere sich durch die Zerstörung von Eigentum. Dies geschehe anonym und unbemerkt, wie im Fall der Dakota Access Pipeline, die von zwei Aktivist:innen über Monate hinweg beschädigt wurde, durch Zerlöcherung der Pipeline, Zerstörung von Ventilstellen und Verbrennung von Baumaterialien sowie Inbrandsetzung von Baggern. Diese Eskalation war die Reaktion auf nicht erfolgreiche Unterschriftensammlungen, Demonstrationen, Protest-Camps und Aktionen des zivilen Ungehorsams, die die Fertigstellung dieser Ölpipeline verhindern sollten, welche das Reservat des Standing Rock Sioux Stamms durchschneidet und die Trinkwasserreserven tausender Menschen bedroht.

Der revolutionäre Künstler und Aktivist Jay Jordan bringt an dieser Stelle den Begriff der „Demontage mit Würde ins Spiel“, dies soll die Vorstellung erweitern, dass wir radikale Veränderungen mittels Sabotage bewirken können. Die „Demontage mit Würde“ sei friedlich, weil keine Menschenleben gefährdet werden. Damit ließe sich auch die Frage nach der Legitimität beantworten, nämlich ob die Sabotage im Kontext der jeweiligen Aktion angemessen ist. Legitimität ließe sich außerdem durch Rückhalt in der Bevölkerung herstellen.

Akteur*innen, die sich kritisch mit dem Einsatz von Sabotage auseinandersetzten, stehen vor vielen weiteren Fragen: Hilft die Aktion Druck aufzubauen, einen konkreten, aber zu legitimierenden Schaden anzurichten und/oder Unterstützung in der Gesellschaft zu entwickeln?
Im Blick auf die abstrakte Strategie oder Taktik einer friedlichen Sabotage: kann Sie im Kontext der Bewegung die Schaffung einer Gegenmacht bewirken? Kann es die Legitimation der Handlung des Staates oder eines Konzernes, z.B Kohleförderung im Rheinland, in Frage stellen? Hilft sie Unterstützung in der Gesellschaft zu gewinnen? Durch die Sympathien in der Gesellschaft kann eine Aktion legitimiert werden und delegitimiert unter Umständen die Autorität des Staates und damit die Höhe der Repression durch den Polizeiapparat und Justiz.
Die Unterschiede zwischen einer in die Luft gesprengten Pipeline und der Umgestaltung des öffentlichen Raums durch ein einbetoniertes Hochbeet auf einem Parkplatz, liegen auf der Hand.
Wo und wie ist es also als Bewegung möglich, die langfristige Wirksamkeit und Effektivität von Bewegungen zu erhöhen?

Kontakt

Werkstatt für Gewaltfreie Aktion, Baden

Vaubanallee 20
79100 Freiburg

Telefon: 0761 43284
buero.freiburg@wfga.de